Einfach unzurechnungsfähig? Opfer einer Verschwörung? Und ansonsten unschuldig?
Bedrohungen, Beleidigungen, Sachbeschädigungen, Notruf-Missbrauch, Körperverletzungen, Verleumdungen, Störung der Totenruhe, Todesdrohungen. Eine ganze Latte an Straftaten hat zu einem Hafturteil vor dem Amtsgericht geführt, gegen das ein heute 52-jähriger, ausgebildeter Krankenpfleger aus der Rottweiler Altstadt juristisch vorgeht.
Ein Musiker würde sagen: da capo al fine. Eine Wiederholung des Gespielten bis zum Schluss. Allerdings will der 52-Jährige, wir nennen ihn Y., einen anderen, einen neuen Takt vorgeben. Und zu einem anderen Schluss kommen. Er nutzt dafür mehrere Strategien.
Der Mann hat ein Berufungsverfahren vor dem Landgericht angestrengt. Aktuell befindet er sich in Untersuchungshaft, aber es ist eine geschäftige Woche für ihn, ist Y.s Verhandlungswoche. Am kommenden Freitag wird der 52-Jährige bereits um 8 Uhr vor dem Amtsgericht erscheinen müssen. Ein Bußgeldverfahren. Der Vorwurf: Verstoß gegen das Kreislaufwirtschaftsgesetz. Er muss irgendetwas in Sachen Mülltrennung massiv verbockt haben. Bauschutt falsch entsorgt, beispielsweise. Oder Altöl. Das kann empfindliche Strafen in Höhe von mehreren zehntausend Euro nach sich ziehen.
An diesem Dienstag geht es ab 9 Uhr morgens für Y. um noch mehr. Er sitzt bereits seit einer im September 2024 ausgerechnet im Amtsgerichtssaal ausgestoßenen Drohung in Haft. Es bestehe Fluchtgefahr, heißt es zudem. Und er wurde wegen einer Vielzahl an Beleidigungen und Bedrohungen, darüberhinaus auch Sachbeschädigungen vor allem zulasten seiner Nachbarn, zu einer Haftstrafe von einem Jahr und zehn Monaten ohne Bewährung verurteilt.
Gegen dieses Urteil hat Y. Rechtsmittel eingelegt. Er will, dass das Landgericht alles nochmal aufrollt. Da die Staatsanwaltschaft mit dem erstinstanzlichen Urteil einverstanden war, juristisch: kein Rechtsmittel eingelegt hat, droht Y. im schlimmsten Falle eine Bestätigung der ursprünglichen Haftstrafe. Schlimmer wird’s für ihn nimmer, höher darf das Berufungsurteil nicht ausfallen, das verbietet das Gesetz. Es droht ihm aber eine Bestätigung der Haftstrafe. Und danach bliebe ihm nur noch die Revision, die Überprüfung auf mögliche Rechtsfehler, etwa. Das Rechtssystem ist geduldig.
Was dem Mann vorgeworfen wird: Er soll (und das Amtsgericht sah das als erwiesen an) zwischen April 2023 und Mai 2024 mehrfach, insgesamt 76 Mal, grundlos telefonisch Kontakt zur Polizei aufgenommen haben. Dabei soll er wiederholt die diensthabende Beamtin beziehungsweise den Diensthabenden bedroht und beleidigt haben. War es eine Frau, dann besonders derbe.
Zudem soll der Mann im Rahmen von Polizeieinsätzen im April, August und September 2023 die vor Ort befindlichen Beamten bedroht und beleidigt haben. Auch aufs Übelste. Im Mai, August und Oktober 2023 soll Y. fremdes Eigentum zerstört haben. Da geht es etwa um blaue Tonnen, die der Mann in Brand gesteckt haben soll. Auch Nachbarn klagen über zerstochene Autoreifen und andere Schäden. Im August und Oktober 2023 soll der Mann im Rahmen eines Feuerwehreinsatzes Feuerwehrleute angespuckt und teilweise auch körperlich angegangen und bedroht haben. Im August 2023 soll der Mann dann zweimal jeweils eine andere Person, darunter einen 16-Jährigen, verletzt haben. Und bei einer Kontrolle des Veterinäramtes im Januar 2024 soll er die eingesetzte Kontrolleurin bedroht und beleidigt haben. Sie nahm ihm zwei Vögel weg, weshalb er sie zwischenzeitlich ausgerechnet vom Gerichtssaal aus mit dem Tode bedroht haben soll (was nicht Teil dieses Verfahrens ist, was erst in der Zukunft juristisch aufgearbeitet werden wird). Mit Todesdrohungen soll der Mann ohnehin freimütig umgehen – was er vehement zurückweist.
Es geht allein in diesem Prozess um zig Anklagen aus dem Herbst 2023 und dem halben Jahr 2024. Ihre Verlesung und ihre juristische Bewertung in Form des Amtsgerichtsurteils dauerte weit mehr als eine Stunde.
Y. sitzt derweil dieser Tage zu Recht in Haft, aktuell in der JVA Villingen-Schwenningen, musste auch den Jahreswechsel dort verbringen. Das hat das Oberlandesgericht Stuttgart nach einem Haftprüfungstermin vor Weihnachten befunden. Eine weitere Lektion für Y., der immer wieder erklärte, die Polizei, die Justiz könnten ihm nichts anhaben. Die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht Rottweil haben damit zudem bescheinigt bekommen, das Verfahren im Griff zu haben und sauber zu führen. Y. dagegen erklärt, zu Unrecht in Haft zu sitzen. So habe er nicht die Vertreterin des Veterinäramts mit dem Tode bedroht. Sondern jemand anderes.
In Fußketten und Handfesseln wird er an diesem Dienstagmorgen in den „Civilkammersaal“ im Rottweiler Gerichtsgebäude geführt. Bleich, müde. Wieder im weißen Hemd mit rot-blau-weiß gestreifter Krawatte und in einer schwarzen Weste sitzt er auf der Anklagebank rechts des Schöffengerichts. Er wirkt gegenüber der Amtsgerichtsverhandlung vom September um ein paar Jahre gealtert. Der Verlesung seiner mutmaßlichen Taten lauscht er interessiert, aber gleichmütig. All den Beleidigungen, etwa, dem zigfachen „A…loch“, „Wich…“, „Fo…“, „Drecksau“, „Ich schlag Dich tot“. Teils jedoch schüttelt der 52-Jährige den Kopf – dass er beispielsweise einer Beamtin am Telefon gesagt haben soll, er wolle ein Kind von ihr, weist er so zurück.
Unterdessen mühen sich die Zuhörerinnen und Zuhörer im Saal damit ab, wach zu bleiben. Der Richter ist nach mehreren verlesenen Seiten längst in einen Singsang verfallen. Die Luft im Saal wird langsam knapp. Besonders zermürbend: Die Repetition der vielen, vielen, vielen Anrufe, mit denen der Mann 2023 und 24 die Diensthabenden im Polizeirevier Rottweil und im Polizeipräsidium Konstanz, im Führungs- und Lagezentrum, genervt und belästigt haben soll. Juristisch ein zigfacher Missbrauch von Notrufen, da nie ein Notfall vorlag. Der Richter versinkt hinter dem Urteilstenor, den er verliest, inklusive aller Uhrzeiten und Gesprächsdauern. Ein Schöffe betrachtet angelegentlich den Deckenstuck. Y. richtet seinen Notizblock am hölzernen Pult aus.
Nach knapp einer Stunde hat der Richter nicht nur ein Einsehen, sondern auch Durst. Er ordnet lächelnd eine kleine Pause von ein paar Minuten an. Fenster werden geöffnet, man unterhält sich gedämpft in Zweiergrüppchen: Y. mit seinem langjährigen Rechtsanwalt, der Staatsanwalt mit dem psychiatrischen Sachverständigen, ein Zuschauer mit dem Pressevertreter.
Danach geht es mit der Urteilsverlesung weiter. Man erfährt, dass der Psychiater, der Y. schon im ersten Verfahren beurteilen musste, den Verdacht einer Persönlichkeitsstörung mit paranoiden Elementen hat. Y. soll Probleme mit der Impulskontrolle haben. Aktiv untersuchen ließ sich der Mann nicht. So konnte der Psychiater nur vermuten, dass „der Angeklagte die Taten zur Bekämpfung von Langeweile begeht.“ Anhaltspunkte für eine Schizophrenie gebe es nicht. Dafür aber war sich der Gutachter sicher: Der Mann ist schuldfähig.
Y. quittiert die öffentliche Zurschaustellung seines Innersten mit Nägelkauen und dem energischen Wegwischen vermeintlichen Staubs vom blütenweißen Hemdsärmel. Ein „schwerwiegendes menschliches Defizit, vor allem im zwischenmenschlichen Bereich“, wird ihm bescheinigt. Das führe dazu, dass der Mann seit mehreren Jahren mit seinen Nachbarn und mit Einsatzkräften von Polizei und Feuerwehr aneinandergerät. Während der Richter am Landgericht dann die Strafzumessungen des Amtsgerichts verliest, bekommt Y. seine Stressreaktion in den Griff, sitzt wieder ruhig und interessiert da. Er hört, dass eine Haftstrafe als notwendig erachtet worden war, weil es eine hohe Rückfallgefahr, zudem keine positive Sozialprognose gebe. Auch unternehme er keinerlei Bemühungen, einen Job zu finden. Und, nicht-juristisch ausgedrückt: Das Amtsgericht wollte Y. offenkundig zeigen, dass der Rechtsstaat und seine Vertreter durchaus Zähne zeigen, gegen ihn vorgehen können.
Es ist nun 10.33 Uhr an diesem Dienstagmorgen, die Verhandlung ist schon eineinhalb Stunden alt, der eigentliche Prozess kann beginnen. „Das Ziel der Berufung ist es, nochmal die Beweisaufnahme durchzuführen“, so Y. Anwalt. Juristisch korrekter: Sein Ziel sei es, einen Freispruch erreichen. Das bedeutet, dass alles, wirklich alles noch einmal aufgerollt werden muss. Wobei Y. die Justiz dabei eigentlich nicht unterstützen will. Angaben zur Sache beziehungsweise zu den vielen Vorwürfen möchte er zunächst nicht machen. Allein: Er habe „unter erheblichem Einfluss von Medikamenten gestanden“, sei „bematscht“ von Morphium, deshalb praktisch unzurechnungsfähig gewesen, „nicht mehr bei Sinnen“. Ein Gesichtspunkt, der während der öffentlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht keine Rolle gespielt hat. Und den der psychiatrische Sachverständige so zurückweist: Die Schuldfähigkeit sei angesichts der Medikamentenliste, die ihm nun vom Angeklagten vorgelegt worden sei, nicht so eingeschränkt gewesen, dass er nicht mehr gewusst habe, was er tue. Das vermeintliche Morphium etwa sei nur ein Schmerzmittel gewesen.
Diese Strategie funktionierte also zunächst nicht, Y. will sie weiter verfolgen. Seine zweite Strategie: Er sei in vielen Punkten unschuldig, habe die persönlichen Beleidigungen gegen bei ihm am Haus eingesetzte Feuerwehrleute und Polizeibeamte nie ausgestoßen. Habe allenfalls mal jemanden angespuckt, nachdem dieser ihn provoziert habe. Auch seien andere zunächst auf ihn losgegangen, er habe allenfalls „einmal zurückgeschlagen, und zwar in Notwehr.“ Er sei wiederholt angegriffen worden.
Der geduldige Richter pariert Provokationen oder ignoriert sie einfach, geht Fall für Fall durch. Er knackt Y., der eigentlich gar nicht aussagen wollte. Y. stellt eine Aussage der Zeugen nach der anderen in Abrede. Etwa die der Polizeibeamten, die würden sozusagen lügen. „Warum sollten die ihren Job riskieren und eine Straftat begehen?“, fragt der Richter. Falschaussage, falsche Verdächtigung stünden im Raum. Die Beamten hätten doch keinen Anlass dazu, so der Richter. Doch, glaubt Y., sie wollten die Tötung seiner Mutter im Krankenhaus Rottweil vertuschen. Deshalb wolle man ihn kleinmachen. Erneut, wie schon vor dem Amtsgericht stellt er sich als den Verfolgten, den von seinen Nachbarn Gequälten dar, über Jahre hinweg. Wenn er also jemanden beleidigt habe, dann habe er dazu allen Grund gehabt. Er benennt Jugendliche namentlich, die Sachbeschädigungen bei ihm begangen haben sollen. „Ich habe in der JVA neun Anzeigen gefertigt, zwei oder drei Wochen vor Weihnachten“, so Y. Etwa zu Zündeleien: „Das war ich nicht, das waren Jugendliche.“ Der Staatsanwaltschaft liegen also wieder neue Fälle vor, während ältere noch verhandelt werden.
Und bei den Notrufen bei der Polizei? „Da war ich in Angst und Sorge.“ Und man habe ihn beim Polizeirevier Rottweil nicht ernst genommen, weshalb er dann jeweils die 110 gewählt habe. Weil dann keine Streife vorbeigekommen sei, habe er eben weiterhin angerufen. Woraus die Notfälle bestanden hätten? Das kann Y. nicht beantworten.
Y.s Strategie drei: Alles sei eine großangelegte Verschwörung von Nachbarn, Feuerwehr, Polizei, sagt er. „Ganz viele Leute müssen gelogen haben, fast alle“, fasst der Richter zusammen. Dass man ihn loshaben wolle, erkläre nicht, dass die Polizeibeamten Falschaussagen machen würden. Insgesamt sei ja wohl ein hoher Tatverdacht gegeben, konstatiert der Richter. Es gebe „viele Zeugen, die Sie belasten. Aber wenn Sie sagen, dass die alle lügen, müssen wir sie alle noch einmal hören.“
Ein letztes Argument von Y.: Er werde doch nach einer zwangsweisen Einweisung in eine psychiatrische Klinik, hier dem Rottenmünster, binnen Kurzem wieder entlassen. Das bedeute keineswegs, dass er gesund sei, so der Richter. Das nehme er fälschlicherweise an, ergänzte der Psychiater. Das sei nur eine Momentaufnahme, dass etwa aktuell keine Eigengefährdung bestehe.
Anekdotisch: „Bei Ihnen in der Nachbarschaft hat es verhältnismäßig oft gebrannt“, stellte der Richter am Rande fest. „Es wäre gut für Sie gewesen, wenn es weiter dort gebrannt hätte, aber es ist ja nichts mehr passiert, seit Sie in Haft sind.“ Dem konnte Y. nichts entgegensetzen.
Der Prozess wird kommenden Dienstag fortgesetzt. Dann sollen Zeugen erneut aussagen.